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EINTRACHT 2.1: Perspektiven für die Nachwuchsarbeit, Teil 3

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d) DER RELATIV-AGE-EFFEKT UND BIO-BANDING – wie man nicht mehr ein Drittel eines Jahrgangs ignoriert

Der Relativ-Age-Effekt:

Was haben die Eintracht-Spieler Schulze-Kökelsum, Gechter, Decarli, Kijewski, Wiebe, Henning, Pena Zauner, Ibrahimi, Bonga, Wintzheimer, Lauberbach und Ihorst gemeinsam? Sie sind alle in den ersten drei Monaten des Jahres geboren. Das sind 41 % des aktuellen Kaders der Saison 22/23. Im zweiten Quartal haben sieben Geburtstag, für die erste Jahreshälfte sind das also insgesamt neunzehn von neunundzwanzig Spielern.

Genau das nennt man den Relative-Age-Effekt:

„Wir haben deutlich überproportional viele frühgeborene Aktive in unserer Förderung, deren Geburtsdatum in der ersten Jahreshälfte liegt und die häufig frühentwickelt sind. Das hat damit zu tun, dass diese Spieler natürlich eher auffallen, weil sie aktuell leistungsstärker sind und sich vielleicht schon mehr durchsetzen können als Spätentwickler des gleichen Jahrganges, deren Geburtsdatum häufig zwischen Juli und Dezember liegt. In den Nachwuchsleistungszentren liegt der Anteil der frühgeborenen Spieler bei über 70 Prozent, das kann kein Zufall sein. Wenn man sich die Gesamtpopulation in Deutschland anschaut, dann findet man annähernd gleich viele früh, mitten und spät im Jahr geborene Menschen, das heißt: Bei der bisherigen Konzentration auf frühentwickelte Spieler geht uns wahrscheinlich ein großer Teil an Talentpotenzial durch die Lappen.“ So beschreibt der Nachwuchs-Koordinator des 1. FC Köln im Januar 22 dieses Phänomen.

In Extremfällen kann der Entwicklungsunterschied bis zu vier Jahre betragen. Als erster hat diesen Effekt der kanadische Psychologe Roger Barnsley beschrieben – und zwar bereits Ende der Achtziger Jahre1.

Massiv verstärkt wurde dieser Effekt noch durch den Beschluss der FIFA im Jahr 1997, die zeitliche Grenze zwischen den einzelnen Jahrgängen von August auf Januar zu verschieben.

Wenn ein Kind im Vergleich zu denjenigen, die in der ersten Jahreshälfte geboren sind, eine geringere Körpergröße, ein niedrigeres Gewicht und sportmotorisch zu dem Zeitpunkt keine klaren Vorteile mitbringt, sind die Chancen gerade bei einem körperbetonten und pressingintensiven Spielansatz auf dem Großfeld sehr gering, überhaupt in ein NLZ zu kommen.

(Messi bestätigt als Ausnahme die Regel. Ganz abgesehen davon hätten fast alle Spieler seiner großen Generation bei Barca – Xavi, Iniesta, Busquets – in kaum einem anderen NLZ als in La Masia Erfolg haben können.)

Kurzfristiger Erfolg von Kindern, die zu diesem Zeitpunkt größer und schwerer und damit durchsetzungsfähiger sind, wird anders herum als größeres Potential (fehl-)gedeutet.

Beim französischen Fußballverband ist man deshalb der Auffassung: „Bis 16 suchen wir Fußballer, der Athlet kann sich zwischen 16 und 20 entwickeln.“

Auch in der Schweiz und in Belgien ist man schon sehr weit. In der Schweiz hat man bereits in der Saison 2018/19 ein groß angelegtes Pilotprojekt durchgeführt und dies intensiv ausgewertet: “Die Erfahrungen aus dem Pilotprojekt haben gezeigt, dass etwa 1/6 des Kaders (3 Spieler) in die höhere und 1/6 des Kaders in die nächst tiefere Kategorie eingeteilt werden müssten.”

Berücksichtigen muss man allerdings ab der U14, dass zumindest bei Torhütern und Innenverteidigern heutzutage die Körpergröße ein wichtiger Faktor ist.

Wie stellt man das relative Alter fest?

Verlässliche Ergebnisse, um das “tatsächliche” Alter festzustellen, bekommt man durch die Vermessung der Mittelhandknochen per Röntgen-Aufnahme, was allerdings eine kostspielige Methode ist. Alternativ kann man die sogenannte Mirwald-Methode verwenden, die konventionell mit Waage und Personen-Messgerät arbeitet.

Konsequenz: Biobanding

Biobanding bedeutet als Konsequenz aus den Erkenntnissen, die sich aus dem Relative-Age-Effekt ergeben, dass Trainingsgruppen entsprechend des biologischen Alters gebildet werden. Das ist gerade für die Differenzierung beim Athletik-Training von großer Bedeutung und kann die Gefahr von Überbelastung und Verletzungen verringern.

Zudem ist Funino, welches auf deutlich kleineren Feldern gespielt wird, für die unteren Altersklassen ein Teil der Lösung.

Biobanding bei Eintracht:

Bei Eintracht nimmt man für sich in Anspruch, zusammen mit dem 1. FC Köln und dem VfB Stuttgart in diesem Sektor „Vorreiter“ zu sein, und zwar „bundesweit“.

Dass man im NLZ für das Thema früher als andere – 2020 – sensibilisiert gewesen ist, mag unter anderem daran liegen, dass Dennis Kruppke als Kind im Vergleich zu seinen Altersgenossen “lange Zeit sehr klein war.”

Dazu, wie Biobanding im Training praktisch aussieht, Jesper Schwarz: „Beim Bio-Banding trainieren die Kinder und Jugendlichen der U12 bis U14 in homogenen Mannschaften mit einer einheitlichen Leistungsstruktur (…) unter Ausschluss der physischen Diskrepanzen, vermehrt in den Bereichen Technik und Individualtaktik.“

Darüber hinaus sollen regelmäßig Biobanding-Turniere, organisiert von Kiriakos Aslanidis, stattfinden: “Bei diesen Events werden regelmäßig unsere Partnervereine sowie regionale Mannschaften der Altersklassen U12 bis U14 in das Nachwuchsleistungszentrum eingeladen, um eine Wettkampfmöglichkeit unter Berücksichtigung des biologischen Alters zu erhalten – dabei übernimmt das NLZ Eintracht Braunschweig die Messung und Einteilung der Bio-Banding-Gruppen und stellt diese Informationen den Mannschaften im Anschluss an das Turnier kostenlos zur Verfügung.”

So fand beispielsweise im November 22 ein Biobanding-Turnier zusammen mit den Stützpunkten Braunschweig und Grasleben statt in den Altersklassen U12 und U13. “Es wurde in drei verschiedenen Spielformen gespielt: “Eins gegen eins”, “Drei gegen drei” sowie “Fünf gegen fünf”.” Es liegt auf der Hand, dass bei diesen Voraussetzungen – “möglichst gleich große und gleich schwere Spieler”, die in diesen kleinen Spielformen gegeneinander antreten – ausschließlich fußballerische Qualitäten den Ausschlag geben.

Die absolute Konsequenz, Kinder dem biologischen Alter entsprechend dauerhaft und damit auch für Punktspiele in die entsprechende U-Mannschaft zu delegieren, ist aber offenbar (bisher) nicht möglich.

Kruppke zufolge möchte man jedenfalls mit dem Bio-Banding auch angesichts der großen Konkurrenz am Kanal eine Nische besetzen: „Wir haben nicht die finanziellen Möglichkeiten wie andere Klubs, fertige Spieler von außen zu holen. Bei uns können wir Spielern aber die Zeit geben, um ihre Defizite auszugleichen.“

Mit anderen Worten: Eintracht möchte an dieser Stelle aus einer Not eine Tugend machen – ein Motto, welches man sich grundsätzlich zu eigen machen sollte.

Fazit:

Es geht insgesamt nicht darum, kleineren Spielern eine Komfortzone zu verschaffen, in der sie vergnügt spielen können, sondern darum, jedes einzelne Kind so individuell und differenziert zu fördern, wie es dies verdient hat, um so das Reservoir an Talenten deutlich zu vergrößern.

Die Grundlage dafür ist – genau wie bei Funino oder den geschlossenen NLZ-Ligen – dass Qualität viel mehr mit Potential und dessen langfristiger Entwicklung zu tun hat als mit kurzfristigem Erfolg auf Grund physischer Vorteile. Der große Erfolg französischer (U-)Mannschaften liegt unter anderem darin begründet, dass man dies dort schon lange beherzigt.

Der BTSV scheint in diesem Bereich gut aufgestellt zu sein und kann so hoffentlich die 30 Prozent eines Jahrgangs, welche zum Beispiel bei der Konkurrenz am Kanal größtenteils durchs Rost fallen, an den Biberweg und dann ins NLZ holen, um sie dort bestmöglich auszubilden.

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LITERATUR:

1: Überflieger Warum manche Menschen erfolgreich sind – und andere nicht von Malcolm Gladwell, 2010/2008, S. 24

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Die übrigen Teile:

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