Eintracht 2.1 – über den Tellerrand geschaut, zweiter Teil
17 min readDie digitale Fußballrevolution – aus der Mitte Jütlands nach Europa
In unserem zweiten Teil der Serie „Eintracht 2.1 – über den Tellerrand geschaut“ geht es um den FC Midtjylland, der 1999 gegründet wurde als Zusammenschluss der Vereine Herning Fremand und Ikast FS.
Er ist einer der interessantesten Clubs ganz Europas, sozusagen der Tesla unter den Fußballvereinen. Das Grünheide des Fußballs befindet sich in der tiefsten dänischen Provinz in Herning.
Basis des Erfolgs ist wie beim FC Brentford die Zusammenarbeit von Matthew Benham und Rasmus Ankersen, der in Herning geboren wurde.
Die Zweifel, ob ihr Experiment funktionieren würde, waren (und sind) groß, ihr großer Erfolg mit beiden Vereinen gibt ihnen jedoch mehr als Recht.
Daher lohnt es sich auch hier, sehr genau hinzuschauen, auf welche Weise dieses Experiment so erfolgreich durchgeführt worden ist, um am Schluss zu ergründen, welche Elemente wir bei Eintracht übernehmen könnten.
Die Städte und ihr Verein:
Ikast und Herning liegen – wie es der Vereinsname vermuten lässt – in der Mitte Jütlands.
Die 50 000-Einwohnerstadt Herning ist das Zentrum der dänischen Textilindustrie. Ein Museum für moderne Kunst, ein großer Messekomplex und die größte Veranstaltungshalle Dänemarks sind sichtbare Zeichen für den innovativen Geist, der in der Stadt herrscht.
So unscheinbar der Ort an sich sein mag, so sehr ist er für seine Mannschaften und Sportler berühmt: Viele erfolgreiche dänische Radfahrer stammen aus Herning, der Eishockey-Club ist Rekordmeister in Dänemark, in den letzten acht Jahren schafften es fünf Spieler in die NHL.
In Ikast, zwölf Kilometer östlich von Herning, leben 15 000 Einwohner.

Der Zusammenschluss der ehemaligen Lokalrivalen war nicht einfach, aus finanziellen Schwierigkeiten heraus aber die einzige Chance, um zu überleben. Viborg FF, gerade wieder in die Superligaen aufgestiegen, ist der große Derby-Gegner.
Die Spielstätte, genannt Messe-Center-Herning-Arena, befindet sich in Herning und bietet Platz für 11 500 Zuschauer.
Die Städte und ihr Verein:
Die Farben des Vereins sind Rot und Schwarz, die Fans nennen sich die „Schwarzen Wölfe“.
Zehn Jahre nach dem Zusammenschluss der beiden Vereine gelang der Aufstieg in die erste dänische Liga, die Superligaen.
2015 konnte man das erste Mal den dänischen Meister-Pokal in Empfang nehmen, sodass man letztlich an der EuropaLeague teilnahm, wo nach der Gruppenphase gegen Manchester United Schluss war.

Drei Jahre später errang der Verein den nächsten Meister-Titel, ein Jahr darauf wurde man zum ersten Mal Pokalsieger.
Letztes Jahr folgte die dritte Meisterschaft, anschließend konnte sich der FC Midtjylland für die Gruppenphase der Champions League qualifizieren, in der man immerhin dem FC Liverpool zuhause ein Unentschieden abringen konnte. Die Niederlagen in den Spielen davor gegen Atalanta Bergamo, Ajax und Liverpool waren so schmerzhaft wie lehrreich.
Im Herbst 2021 steht man wieder vor der Konkurrenz aus den deutlich größeren Städten Kopenhagen, Aalborg oder Odense an der Tabellenspitze der Superligaen.
Die Verantwortlichen haben es in Herning und Fremand geschafft, in relativ kurzer Zeit Verein und Mannschaft vom Nobody zum Titelaspiranten zu entwickeln, der FC Midtjylland ist zum dänischen David geworden, der schon jede Menge in- und ausländischer Goliaths überwunden hat.

Auf hiesige Verhältnisse übertragen wäre es so, als ob sich der MTV Wolfenbüttel und Viktoria Königslutter zusammengeschlossen hätten, um in die Bundesliga – oder zumindest in die Dritte Liga – aufzusteigen.
Die Rolle von Benham und Ankersen:
Nachdem sich die beiden 2012 in London kennengelernt hatten und Benham beim FC Brentford eingestiegen war, übernahm Benham auf den Ratschlag von Ankersen 2014 für etwas mehr als sechs Millionen 75 % der Anteile des FC Midtjylland.
Ankersen hatte ein Spiel als Profi für seinen Heimatverein absolviert und arbeitete anschließend eine Zeit als Co-Trainer der U19. Seit der Übernahme fungiert er als Vorsitzender des Verwaltungsrates.
Von Anfang an war allen Beteiligten klar, dass der FC Midtjylland nicht irgendein Provinzverein sein soll, sondern ein sehr moderner und innovativer Verein mit äußerst ambitionierten Zielen.
Zwischen dem FC Brentford und dem FC Midtjylland gibt es eine enge Beziehung, modern formuliert hat man vom Start weg Synergieeffekte genutzt. Der dänische Verein diente in gewisser Weise als Experimentierfeld für den englischen, wovon letztlich beide profitiert haben.
Moneyball – die Bedeutung datenbasierten Scoutings und datenbasierter Spielanalyse:
Trotz Champions League-Teilnahmen und Transferüberschüssen – grundsätzlich muss der FC Midtjylland mit dem Etat eines deutschen Zweitligisten zurechtkommen.
Die Daten aus Benhams Firma SmartOdds helfen den Verantwortlichen nicht nur beim Scouting, sondern auch bei der Entwicklung des Spielstils. Die KPIs (Key Performance Indicators) kennen wir schon vom FC Brentford. Mit diesen zentralen Werten will man die tatsächliche Leistung eines Spielers präziser bemessen und geht dabei weit über die üblichen Statistiken wie Passsicherheit und Zweikampfquote hinaus. Immer wichtiger werden dabei die über Tracking zu ermittelten Positionsdaten.
Auf diesem Weg findet man völlig unterbewertete und daher preiswerte Spieler.
Das bekannteste Beispiel für die erfolgreiche Scouting-Strategie ist Tim Sparv, ein finnischer Mittelfeldspieler, der 2014 vom damaligen Zweitligisten Greuther Fürth verpflichtet worden ist. Den Analysen der Daten nach passte er zum einen perfekt in die Mannschaft und in das System, zum anderen war er deutlich preiswerter als ein vergleichbarer Spieler von einem großen skandinavischen Verein.
Bis letzten Sommer war er Kopf und Herz der Mannschaft. Seine größte Stärke ist Ankersen zufolge sein Spielverständnis.
Bei den Transferaktivitäten ist das Plus nicht ganz so beeindruckend wie beim FC Brentford, aber mit ca. 30 Millionen immer noch sehr beachtlich.
(Die Expected-Goals-Metrik, die ähnliche Erkenntnisse wie Benhams Firma nutzt, hat Jussi auf der Blaugelben Datenwelt vor einiger Zeit genauer erläutert. Äußerst aufschlussreich sind zudem die Interviews mit Dustin Böttger von Global Soccer Network und den Experten von CreateFootball.)
Hier ein hilfreiches Schaubild für systematisches und datenbasiertes Scouting:

Eine hundertprozentige Trefferquote gibt es nicht, beispielsweise hatte man Luca Pfeiffer sehr intensiv gescoutet in seiner Zeit bei den Würzburger Kickers, nach zwei wenig erfolgreichen Jahren wurde er dieses Jahr zu Darmstadt 98 ausgeliehen. Dort ist er jedoch im Moment so erfolgreich, dass eine Rückkehr durchaus möglich erscheint.
Wichtige Impulse gab es auch von Lars O.D. Christensen, der Neurophysiologie in Oxford studiert hat. Er ist bzw. war unter anderem zuständig für Datenanalyse, kognitive Diagnostik und Trainingsmethoden. Ihm zufolge werden Daten auf einer Vielzahl von Ebenen verwendet, wie er in einem Interview mit dem Sportwissenschaftler Daniel Memmert erläutert: Physisches Training, Spielauswertung, Entwicklung neuer taktischer Elemente, Optimierung des individuellen Techniktrainings u.ä..
In diese Prozesse werden alle Trainer permanent und intensiv eingebunden, um das Training stetig zu verbessern. (Memmert und Raabe, S. 79f.)
Mit den Daten und deren Aufbereitung können die Trainer während und nach Training und Spiel den Spielern die Erkenntnisse visualisiert vermitteln und quasi in Echtzeit Korrekturen vornehmen.
Der DFB lobt auf seiner Seite DFB-Akademie.de die Tiefenläufe, das Umschaltspiel und nicht zuletzt die Standardorientierung des FC Midtjylland als vorbildlich.
Standards und Einwürfe:
Vor allem auf der Grundlage von Benhams Erkenntnissen hat sich der FC Midtjylland zum Standardkönig Europas gekrönt.
In manchen Spielzeiten wurde fast die Hälfte der Tore über Standards erzielt. Der ehemalige Standardtrainer Mads Buttgereit ist in dieser Funktion inzwischen bei der deutschen Nationalmannschaft tätig,
Die Fokussierung auf Standards ist unter anderem auf Ted Knutson, einen der Pioniere der datenbasierten Analyse, zurückzuführen. Er hat in den ersten Jahren sowohl für den FC Brentford als auch den FC Midtjylland gearbeitet, bevor er sich mit seiner Firma Statsbomb selbstständig gemacht hat. Mit seinem Produkt Statsbomb360 arbeitet er inzwischen unter anderem für den FC Liverpool.
Im Schnitt fallen 30 Prozent aller Tore nach Standards, kaum ein Trainer auf der Welt aber käme auf die Idee, 30 Prozent des Trainings in Freistöße und Ecken investieren. Ganz so eklatant ist das Verhältnis beim FCM nicht, doch man verwendet viel Zeit dafür und beschäftigt sich in „Special Teams“ intensiv mit allen Facetten von Ecken und Freistößen. Zwanzig bis fünfundzwanzig Varianten hat die Mannschaft daher inzwischen in ihrem Playbook.
Gleiches gilt für Einwürfe:
Einwurftrainer Thomas Grönnemark arbeitet seit ein paar Jahren als gefragter Spezialist in ganz Europa, unter anderem für Jürgen Klopp beim FC Liverpool. Mit Grönnemarks Hilfe war der FC Midtjylland einer der ersten Vereine, der Einwürfe systematisch trainieren ließ. Seitdem hat man einen weiteren Pfeil im Köcher.
Andreas Poulsen aus Ikast, der inzwischen bei Borussia Mönchengladbach unter Vertrag steht und aktuell an den FC Ingolstadt ausgeliehen ist, hat sich bei seinen Einwürfen von 25 auf 38 Meter gesteigert, Joe Gomez vom FC Liverpool, der mit einem seiner weiten Einwürfe das entscheidende Tor Englands in der Qualifikation für die letzte EM vorbereitete, auf 37 Meter.
Darüber hinaus leistet man sich einen Coach, der nur für die Schusstechnik zuständig ist.
Die Vereinsphilosophie:
Der für die revolutionären Sicht- und Herangehensweisen nötige Kulturwandel im Verein lief halbwegs ruhig ab. Dass Ankersen ein Kind des Vereins ist und dass man so schnell Erfolg hatte, half dabei sicherlich.
Zur innovativen und progressiven Vorgehensweise gehört auch eine fortschrittliche Fehlerkultur: Wenn einzelne Elemente dieses Fußball-Experiments nicht funktionieren, wird dies entsprechend ausgewertet und der Prozess verändert.
Der FC Midtjylland sei ein datengesteuerter Familienclub, wie es Sportdirektor Graversen in einem Sportschau-Bericht definiert, die Verantwortlichen wollen also modernste Methoden in Einklang bringen mit der familiären Atmosphäre eines Kleinstadtvereins.
„Wir haben immer schon neue Wege bestritten, das ist Teil der DNA unseres Klubs“, ergänzt Claus Steinlein, der Vereinspräsident bei 11Freunde.
„Ich vergleiche es gerne mit einer Differentialgleichung. Wenn man sich diese Aufgaben das erste Mal anschaut, denkt man sofort ans Aufgeben. Man scheint überfordert zu sein, aber es gibt Leute, die diese Gleichungen gelöst haben und es gibt Formeln, die man lernen kann und die einem helfen, um an das Ziel zu kommen. Diesen Weg zu gehen erfordert Geduld, Beharrlichkeit und Disziplin und irgendwann kann man die Differentialgleichungen lösen.
Ähnlich ist es im Fußball: Die Überforderung wirkt sich nur über einen bestimmten Zeitraum aus. Wenn ich bereit bin, an meinem Mindset zu arbeiten, sehe ich die positiven Aspekte und begreife sie als weitere Chance, mich als Spieler zu verbessern, und konzentriere mich nicht auf die negativen Aspekte wie eine mögliche Überforderung.“
Mit diesem Vergleich erläutert Buttgereit auf transfermarkt.de Henrik Statnischenko gegenüber die allgemeine Vorgehensweise und beschreibt damit perfekt, dass man nur außerhalb der Komfortzone vorankommen und Lernerfolge erzielen kann, und zwar durch aktives Lernen, wie es Daniel Coyle nennt (Daniel Coyle, S. 19ff.). Andere geläufige Begriffe in der Wissenschaft sind differentielles Lernen und deep and deliberate practice.
Aus dem gleichen Interview mit Buttgereit stammt das folgende Zitat, welches unterstreicht, dass Vereine nur dann konzeptionell arbeiten können, wenn es eine überpersonale Kontinuität gibt:
„Eines der größten Probleme ist derzeit die fehlende Kontinuität auf den Trainerpositionen. Wenn ein Trainer nach vier Niederlagen in Folge bereits um seinen Job zittern muss, wird nur von Tag zu Tag, von Spiel zu Spiel gedacht. Wir müssen dahin kommen, dass die Vereine ein Fundament legen, das unabhängig vom Trainer und den Spielern ist. Eine Art Vereinsphilosophie. Das heißt, wenn ein Trainer entlassen wird oder den Verein freiwillig verlässt, stellt es kein Problem dar, weil der eingeschlagene Weg weitergegangen und nicht alles durch einen neuen Trainer über den Haufen geworfen wird.“
Derartige Wechsel im Personal hat es beim FC Midtjylland ähnlich wie beim FC Brentford immer wieder gegeben, in den letzten zwölf Jahren hatte der Verein sieben Cheftrainer. Dem Erfolg hat es jedoch keinen Abbruch getan.
Claus Steinlein, seit dem Jahr 2000 im Verein, ist seit 2012 Präsident und Leiter der Fußballabteilung, er verkörpert – zusammen mit Ankersen – die von Buttgereit geforderte Kontinuität.
Ansonsten hat man zwar grundsätzlich nur das Budget eines Zweitligisten, in Köpfe und Kompetenzen wird dennoch investiert. Hier zeigt sich, dass ein solcher Erfolg nur möglich ist, wenn genügend Personal hinter dem Personal zur Verfügung steht. Allein im sportlichen Bereich sind dies zehn Personen in den oberen Ebenen – und da sind die Trainer nicht einmal mitgezählt.
Auch im sozialen Bereich wird eine Menge unternommen, gerade was die Förderung benachteiligter junger Menschen betrifft, um den Begriff „Familienverein“ mit Leben zu füllen. Zu diesem Zweck arbeiten drei „Potentialtrainer“ beim Verein.
Die Nachwuchsarbeit:
Kein Verein hat schon jetzt mehr Spieler, die im eigenen Verein groß geworden sind, im Kader für die Spiele der aktuellen EuropaLeague als der FC Midtjylland, nämlich sechzehn.
Seit 2011 konnte man über fünfzig Spieler aus dem eigenen Nachwuchs in die Profi-Mannschaft integrieren.
Einer der bekanntesten Spieler, die beim FC Midtjylland groß geworden sind, ist Simon Kjaer, aktuell beim AC Mailand unter Vertrag und Kapitän der dänischen Nationalmannschaft. Sein Vater ist bis heute Zeugwart im Verein.
Datenanalyse wird auch in der Jugendarbeit genutzt, vor allem im Bereich Monitoring, also in der Trainingsplanung und -steuerung.
Für ein gezieltes Scouting im Jugendbereich kooperiert man mit hundertfünfundvierzig Vereinen im westlichen Teil Jütlands – also quasi mit jedem.
Auch bei der Nachwuchsarbeit greift der Verein auf Ankersens Expertise zurück: Nachdem die U19 in den letzten Jahren zweimal das Viertelfinale der Europa Youth League erreicht hat, wurde 2020 eine Jugendakademie eröffnet mit dem Namen „Goldmine“. In ein paar Jahren will man dort bis zu 200 Kinder und Jugendliche so gut wie nur möglich ausbilden, damit im Jahr 2030 ein Ballon d´Or-Gewinner aus Herning bzw. Ikast kommen wird – wahrlich ein ambitioniertes Ziel.
Doch wer es aus der Mitte Jütlands in die Champions League geschafft hat, wird womöglich auch diesen Traum Wirklichkeit werden lassen….
Sich große Ziele zu setzen ist genauso Teil eines klares Konzeptes wie die intensive Integration von Spielern der Profi-Mannschaft in die Ausbildung und das Training der Nachwuchskicker. Damit setzt man in der „Goldmine“ Ankersens Erkenntnis um, dass Vorbilder, die ständig sichtbar sind, einen enormen Einfluss auf die positive Entwicklung eines jungen Menschen haben.
Daniel Coyle hat diese permanente Initialzündung in „The Talent Code. Greatness ins´t born, it´s grown“ (Coyle, S. 95ff.) als einen der wichtigsten Faktoren für Erfolg identifiziert.
Aber auch die Spieler der ersten Mannschaft sollen davon profitieren, da es sie daran erinnere, woher sie kommen.
Die Kooperation mit dem nigerianischen Verein FC Ebedei:
Eine weitere wichtige Säule der erfolgreichen Nachwuchsarbeit ist eine langjährige Kooperation mit dem nigerianischen Verein FC Ebedei.
Der Verein wird von Churchill Oliseh gemanagt, dem älteren Bruder von Sunday Oliseh. Er wurde von ihm als Akademie-Verein gegründet und spielt durchgängig in der dritten Liga Nigerias, aufzusteigen ist nicht das primäre Ziel. Stattdessen hat er dafür gesorgt, dass viele seiner Spieler in Europa Fuß fassen können und dort bestenfalls zu Nationalspielern heranreifen. Sein Verein – und er selbst als Agent – profitieren davon erheblich. Steinlein ist an diesem Projekt fast von Beginn an beteiligt gewesen.
Paul Onuachu, ein großer Stoßstürmer, den Werder Bremen gerne vor ein paar Jahren verpflichtet hätte und der inzwischen einen Marktwert von 22 Millionen hat, ist zuerst in die U19 des FC Midtjylland gewechselt und schaffte dann den Sprung in die Profi-Mannschaft. Neben ihm sind in den letzten zwanzig Jahren über dreißig Spieler transfermarkt.de zufolge diesen Weg gegangen, unter anderem Frank Onyeka, inzwischen beim FC Brentford, und David Akintola (Adana Demirspor).
Da diese Spieler aber teilweise minderjährig gewesen sind, als sie nach Dänemark kamen, wurde 2007 die FIFA aktiv und erteilte „strong warnings“ an den Verein und den dänischen Fußballverband, geändert hat sich an der Vorgehensweise jedoch anschließend offenbar nicht viel. Der Verein macht für sich geltend, die Spieler nicht nur fußballerisch auszubilden, sondern auch für Unterkunft und Schulbildung zu sorgen.
Dieses System funktioniert nun schon eine lange Zeit, weil sehr viele Beteiligte davon in der einen oder anderen Weise profitieren. Man kann es aber sicherlich sehr kritisch betrachten.
(Der FC Nordjaelland, der dritte Verein in unserer Serie, arbeitet im Übrigen in ähnlicher Weise, dort ist die „Right-to-Dream-“Akademie in Ghana das afrikanische Nachwuchsreservoir.)
Teambuilding:
Auch das Teambuilding ist beim FC Midtjylland ein sehr wichtiger Aspekt. Das Motto dabei lautet: Wenn Du die Menschen wirklich sehr gut kennst, mit denen Du zusammenarbeitest, und ihnen immer vertraust, kannst Du Deine volle Konzentration auf die gemeinsame Aufgabe legen.“
Unter der Leitung von Bjarne Slot Christiansen, einem Mentaltrainer und früheren Special-Forces-Offizier, der inzwischen fest zum Trainerstab gehört, hat die Mannschaft in der Vorbereitung auf diese Saison eine Art Survivaltraining auf einer kleinen dänischen Insel inklusive Segeltörn, Standup- Paddeln, Zelten am Strand und Orientierungslauf durchgeführt.
Ein anderes Teambuilding-Element ist, wie man im Guardian nachlesen kann, die Aufteilung der Spieler in vier Farbkategorien. Jeder Spielertyp – kreativ, sozial, diszipliniert, erfolgsorientiert – bekommt eine Farbe zugeteilt, zum Beispiel rot für erfolgsorientiert. Anschließend soll jedes Teammitglied allen Mitspieler jeweils eine farbige Karte zuordnen. So wird die Teamstruktur in einer völlig neuen Weise visualisiert.
(Flüthmann (und Schubert) haben ein ähnliches System verwendet, um in der Winterpause der Saison 2018/2019 unseren Kader zu analysieren. Auf Basis der Ergebnisse dieser Analyse wurden anschließend Spieler wie Fejzic, Kessel, Nehrig und Bär verpflichtet, wodurch der Abstieg in die Regionalliga gerade so vermieden werden konnte.)
SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR EINTRACHT:
Solche kreativen Methoden, wie sie eben beschrieben worden sind, lohnen sich immer, sowohl für die Analyse als auch für das Teambuilding, was insbesondere dann besonders wichtig ist, wenn man sportlich eher begrenzte Möglichkeiten hat wie beispielsweise in der letzten Saison.

Die enorme Bedeutung datenbasierter Spielanalyse und datenbasierten Scoutings kann gar nicht oft genug betont werden. Das Daten-Doping ist nicht der einzige Baustein, aber einer der wichtigsten beim FC Midtjylland.
Für die Dritte Liga scheinen die Scouting- und Tranfer-Bemühungen des BTSV im Sommer erfolgreich gewesen zu sein, spätestens für die Zweite Liga wird es aber höchstwahrscheinlich nicht reichen, wenn man sich wie bisher einzig und allein auf Netzwerk-Scouting verlässt. Dennis Kruppke beginnt offenbar das notwendige Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass sich Eintracht in diesem wichtigen Segment dringend modernisieren muss.
Hätte man die Wichtigkeit von Standards und Einwürfen bereits vor zwei oder drei Jahren erkannt und angemessen ins Training integriert, hätte man sich in diesem Bereich einen kleinen Vorsprung erarbeitet.
Inzwischen haben sich selbst Spieler wie Schnatterer, der nicht zu den absoluten Riesen zählt, zu Einwurfspezialisten entwickelt. Daher muss man zusehen, hier nicht ins Hintertreffen zu geraten.
Co-Trainer Thomas Lust hat die Mannschaft bei Standards immerhin schon einen Schritt nach vorne gebracht. Zumindest Kijewski hat weite Einwürfe in seinem Repertoire, allerdings finden sie bisher kaum Abnehmer.
Exotisch, um nicht zu sagen riskant, doch auch sehr reizvoll wäre eine Kooperation mit dem ehemaligen Eintracht-Spieler Kingsley Onuegbu, der zur Zeit noch in der zweiten chinesischen Liga auf Torejagd geht, aber nach seiner Karriere eine Fußballschule in seiner Heimatstadt Kaduna eröffnen möchte. Als Vorbereitung hat er dafür ein Sportmanagement-Studium in Deutschland absolviert.
Wenn ihm der Verein dabei helfen könnte, diese Idee in die Tat umzusetzen, könnte man möglicherweise in fünf bis zehn Jahren ähnlich wie der FC Midtjylland regelmäßig aus Nigeria Nachwuchsspieler rekrutieren, müsste dabei jedoch sehr genau auf die Einhaltung aller relevanten Bestimmungen achten.
Bei der Regionalisierung der Jugendarbeit hat man erste Schritte bereits unternommen. Auf hundertfünfundvierzig Kooperationsvereine muss man nicht kommen. Wenn aus den dreien, die es im Moment sind, in den nächsten Jahre zehn bis fünfzehn werden würden, wäre man schon einen großen Schritt weiter.
Grundsätzlich wären eine klare Vision und eine durchdachte Strategie gerade für Eintracht dringend von Nöten. Dafür braucht man nicht unbedingt jede Menge Geld, sondern vor allem jede Menge Gestaltungswillen und Kreativität, um Wettbewerbsnachteile gegenüber Vereinen aus größeren Städten auszugleichen.
Die wichtigste Erkenntnis der genauen Betrachtung des FC Midtjylland ist nämlich die, dass Erfolg buchstäblich überall machbar ist, dass Erfolg sogar planbar ist – wenn man den richtigen Plan hat und den Mut und den Willen, ihn konsequent umzusetzen. Dies wird nicht nur von Ankersen, sondern auch von Coyle an verschiedensten Beispielen nachgewiesen.
Dafür muss man so wie Benham, Ankersen, Steinlein und Graversen zwar die ausgetretenen Pfade, die alle benutzen, verlassen. Auf die Ideen, die diesem Plan zugrunde liegen, muss man jedoch nicht einmal selbst kommen, sie gibt es bereits.
Sie haben mehrfach – und das an Orten, wo man es wirklich nicht erwarten konnte, wie mitten in Jütland – den Realitätscheck bestanden. Man muss sie “nur” finden und so umgestalten, dass sie hier bei uns funktionieren. Das radikale Experiment der digitalen Revolution im Fußball hat funktioniert und wird weiter funktionieren.
Warum also nicht auch hier, warum nicht in Braunschweig, der Stadt der Wissenschaft, in der es seit den Zeiten Heinrichs des Löwen Tradition hat, Neues zu wagen – warum also nicht bei Eintracht?
Was vorläufig dazu vor allem fehlt, und zwar weniger bei Spielern und Trainern, sondern mehr bei Verantwortlichen und Funktionären, ist das von Buttgereit angesprochene dynamische Mindset.
Es ist wirklich nicht so, dass bei Eintracht weniger oder schlechter gearbeitet wird als in anderen Vereinen, aber bei Eintracht muss mehr, muss besser und vor allem kreativer gearbeitet werden, bei Eintracht muss man mehr geben – zumindest wenn man Erfolg haben will, der über die Dritte Liga hinausgeht.
Garantien gibt es keine – wenn man die will, muss man sich bekanntermaßen einen Toaster kaufen – doch die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg wird enorm erhöht.
Einer der ersten konkreten Schritte könnte darin bestehen, dass Mitarbeiter des NLZ Vereine wie den FC Midtjylland oder den FC Brentford besuchen, um dort zu hospitieren. Benjamin Kessel und Matthias Henn, beides ambitionierte Ex-Löwen, wären dafür perfekt geeignet.
Darüber hinaus braucht Dennis Kruppke im NLZ und beim Aufbau der Scouting-Abteilung für den Profi-Bereich jede Art von Bestätigung und Unterstützung dafür, innovative und zeitgemäße Ideen im Verein zu etablieren.
Abschließend ist zu betonen, dass auch im Fall des FC Midtjylland nicht alles blind kopiert werden kann und darf. So fruchtbar beispielsweise die enge Verbindung mit dem FC Brentford auch sein mag und so unwahrscheinlich ein Zusammentreffen in einem europäischen Wettbewerb bisher gewesen ist, so sehr ist es aus prinzipiellen Gründen abzulehnen, dass einem Eigentümer zwei Vereine gehören, bei denen nicht absolut ausgeschlossen ist, dass sie irgendwann gegeneinander antreten müssen.
Jens
Im dritten Teil unser Reihe „Eintracht 2.1 – über den Tellerrand geschaut“ wird es um den FC Nordsjaelland gehen, der in manchen Dingen dem FC Midtjylland ähnelt, aber auch eigene Schwerpunkte setzt.
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Literatur sowie Links zu Texten und Filmen:
Rasmus Ankersen: The Goldmine Effect (2012) Hunger in Paradise (2016)
Daniel Coyle: The Talent Code. Greatness isn´t born, it´s grown 2009, auf Deutsch Erfolg braucht kein Talent. Der Schlüssel zu Höchstleistungen in jedem Bereich (2019) (Der Titel der deutschen Übersetzung ist etwas zu reißerisch.)
Daniel Memmert und Dominik Raabe: Revolution im Profifußball. Mit Big Data zur Spielanalyse 4.0 (2. Auflage 2019)
https://www.fcm.dk/klubben/administration/
https://www.fcmklubsamarbejdet.dk/
https://www.fcm.dk/fcm-samfund/
https://en.wikipedia.org/wiki/FC_Midtjylland
https://de.wikipedia.org/wiki/FC_Midtjylland
https://www.transfermarkt.de/fc-midtjylland/startseite/verein/865/saison_id/2021
https://11freunde.de/artikel/moneyball-im-niemandsland/503836
https://www.theguardian.com/football/blog/2015/feb/22/brentford-mathematical-modelling-denmark
https://www.dfb-akademie.de/fc-midtjylland-die-senkrechtstarter/-/id-11009330
https://fussballtraining.com/artikel/ft-12-2020-datenanalyse-im-fussball/
https://statsbomb.com/2017/02/changing-how-the-world-thinks-about-set-pieces/
https://theathletic.com/2242089/2020/12/06/midtjylland-gold-mine-school/
https://fifpro.org/en/rights/legal-cases/legal-case-fc-midtjylland-and-nigerian-minors
https://cheeronnigeria.blogspot.com/2019/07/fc-ebedei-model-what-can-team-managers.html
https://en.wikipedia.org/wiki/F.C._Ebedei
https://www.eintracht.com/teams/nachwuchs/nlz/loewenpartner
Sportschau-Bericht im Rahmen einer längeren Sendung über die Verwendung von Daten im Fußball: https://www.sportschau.de/fussball/video-fc-mydtjylland—der-daten-club-aus-daenemark-102.html
Reportage der UEFA über den Verein: https://www.youtube.com/watch?v=p0qLf1ouK20
sehr sehenswerte Doku von Copa 90 über den FCM und über Brentford: https://www.youtube.com/watch?v=s6UcNGzE8sU
Die Entwicklung von Brentford und Midtjylland: https://www.youtube.com/watch?v=mrwwVoD1RQQ
Einwürfe: https://www.youtube.com/watch?v=pdQHWp2OpGs https://www.youtube.com/watch?v=eCViZrU_eck&t=399s
Teambuilding beim FC Midtjylland: https://www.youtube.com/watch?v=cEmxds2i9Lw
Die Goldminen-Schule: https://www.dr.dk/sporten/fodbold/pokalturneringen/store-ambitioner-paa-fcms-guldmine-maalet-er-udvikle-verdens-bedste#!/
the Numbers Game, Reportage über die Bedeutung von Daten im Fußball von Four-Four-Two https://www.youtube.com/watch?v=lLcXH_4rwr4
kritische Reportage zur Vorhersagbarkeit von Spielen am Beispiel der letzten Europameisterschaft (die aber am Kern etwas vorbeigeht): https://www.youtube.com/watch?v=EcP2lb0LLbg
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