Sündenböcke und Helden
8 min readMoin Löwen!
Von Spiel zu Spiel, oder im schlimmsten Fall von Niederlage zu Niederlage, werden von den Fans nach dem Spiel Sündenböcke und Helden gesucht. Sind nicht die Schiedsrichter schuld, werden gewisse Spieler immer sehr heftig, auch von der Braunschweiger Presse, kritisiert. Oft ist diese Kritik unnötig. Fußball ist ein sehr komplexes Spiel und sehr selten sind einzelne individuelle Fehler dafür verantwortlich, dass ein Spiel verloren geht. Genauso selten ist es, dass allein die individuelle spielerische Klasse Spiele entscheidet. Natürlich gibt es diese Spiele ab und an. Fußball ist jedoch vor allem ein Kollektivspiel, in dem während eines Spieles ca. 400-500 Fehler passieren. Deshalb versuche ich persönlich mich nicht zu sehr im Laufe eines einzigen Spieles über gewisse Spieler aufzuregen.
Zugegeben: nicht immer ist das einfach! Es gibt natürlich als Fan oder Funktionär bei der Eintracht persönliche Präferenzen. Deswegen ist der jeweilige Kontext für eine Bewertung so enorm wichtig. Daten ohne Kontext sind nutzlos. Dazu sollten man die Analyse klar von der Analytik trennen. Und Daten sind die Grundlage meiner Analyse.
Ein gutes Beispiel ist Jan-Hendrik Marx. Ja, ich halte ihn anhand der Daten von Global Soccer Network immer noch nicht für zweitligatauglich, wenn man seine Eigenschaften betrachtet. Aber sogar ich muss zugeben, dass er in dieser Saison nachweislich gute Leistungen zeigt und dass seine Leistungskurve über die Saison hinweg die reine Bewertung seiner Eigenschaften deutlich übertrumpft. Ich erkenne absolut an, was er trotz seiner datentechnisch etwas niedrig bewerteten Fähigkeiten aktuell leistet.
Dennoch sieht man bei Marx derzeit, dass seine Leistungskurve eine kleine Delle bekommen hat. In seiner gesamten Karriere hat er einen GSN-Performancescore von 48,86 (Stand 7. Dezember 2022). In der Hinrunde haben seine Leistungen diesen Score übertrumpf. Mit 51,87 lag er über 6 % im Plus. In der Rückrunde hat er bisher einen Durchschnitt von 51,04 – bei stark schwankenden Leistungen. Dennoch liegt er hier noch knapp über dem Team-Rückrunden-Durchschnitt (50,9).

Ein konstanter Performer in dieser Rückrunde ist Anton Donkor. Anders als bei Marx ist Donkors Problem, dass er zwar sehr gleichmäßig Leistungen erbracht hat, seine Performance aber nur einmal knapp über den Team-Durchschnitt lag (gegen Darmstadt). In der Hinrunde lag seine Score mit 50,90 deutlich über seinem Karrierewert von 48,38 (Stand 7. Dezember 2022) und hatte ein Performanceplus von über 5 %. Jetzt, in der Rückrunde, liegt sein Wert bei 48,76, was seinem Karrierewert immer näher kommt.
Das Manko im Fall von Marx und Donkor ist, dass Eintracht eine bessere Performance auf den Außenbahnen unbedingt braucht. In der Rückrunde lagen die beiden im Ligavergleich der Außenbahnverteidiger auf den Plätzen 22. (Donkor) und 25. (Marx). Um den Ligadurchschnitt zu erreichen, bräuchte man einen Performancescore von rund 54. Diesen noch irgendwie zu erreichen dürfte, aufgrund der fehlenden Eigenschaften, bei beiden sehr schwer werden. Fairerweise muss man sagen, dass dies auch für viele andere Eintracht-Spieler gilt.
Einer, der die richtigen Eigenschaften für die 2. Bundesliga mit sich bringt, ist Keita Endo. Leider scheint es aktuell so, dass sehr viele von uns Fans in ihm einen Sündenbock gefunden haben. Teilweise geht die Kritik sogar unter die Gürtellinie und ist nicht verdient. In dieser Rückrunde gehört es sicher nicht zu den besonders konstanten Spielern. Jedoch liegt er laut seinem GSN-Performancescore von 53,6 über dem Eintracht-Durchschnitt. Während er in zwei Spielen besser als der Durchschnitt (HSV u. Darmstadt) war, lag er in den anderen beiden darunter (Heidenheim u. Kiel).

Im Fall von Keita Endo ist der Kontext enorm wichtig. Zunächst sollte man wissen, dass Endo vom Spielertyp her als Inverser Außenstürmer gilt. Als Achter in einem 3er Mittelfeld spielt er daher auf einer ungewohnten Position und in einer unpassenden Rolle. Trotz guter Leistung (laut Daten) sieht er in einigen Situation unglücklich aus.
GSN zufolge bringt Endo sogar Bundesligaeigenschaften mit sich. Er ist stark im offensiven eins gegen eins, hat eine saubere Ballverarbeitung. Dazu ist er trickreich, wendig, mit einem starkem Antritt und mit ordentlichen Tempo ausgestattet (33.80 km/h). Taktisch ist der Japaner auf einem hohen Level. Er hat eine starke Übersicht in Drucksituationen und ist kreativ. Er orientiert sich gut nach vorne und hat eine gute Raumfindung.
Das sind die Grundeigenschaften, in denen Endo als besonders stark gilt. Schon bei deren Betrachtung kann man hinterfragen, ob er aktuell optimal eingesetzt wird. Noch deutlicher wird es, wenn man seine Eigenschaften betrachtet, die er verbessern könnte: Flanken, eigener Abschluss und aggressiveres Pressingverhalten. In Punkto Pressing zum Beispiel hat Endo diese Saison 18.86 individuelle Pressingaktionen pro 90 Minuten, 7.33 davon erfolgreich. Das sind 38.86%, was keinem besonders guten Wert entspricht.
Seine aus taktischer Sicht suboptimal einsetzbaren Grundeigenschaften sind auch der Grund, warum er aktuell an uns ausgeliehen ist und nicht beim 1. FC Union Berlin aufläuft. Die wenige Spielzeit in der abgelaufenen Saison ist dem System der Eisernen geschuldet gewesen, in dem praktisch ohne Außenbahnspieler offensiv agiert wird. So hat Endo zwar in der 2. Bundesliga mit der Eintracht mehr Spielzeit, jedoch genau die selben Probleme.
Damit offenbart er auch die Missstände im Braunschweiger Scouting. Man findet keine Spieler, die wirklich zum eigenen Spielstil passen. Im Gegenteil: man wiederholt die Fehler anderer Vereine. Fehler, die mit Datenbasierterm Scouting vermeidbar gewesen werden. Ein Vergleich aus dem Reitsport sei mir erlaubt: Ein hochklassiges Dressurpferd wird sich an dieser Stelle in eine Reihe von anderen gescheiterten Dressurpferden einreihen, weil sie als Arbeitspferd oder Rennpferd eingesetzt wurden. Spieler wie Martin Kobylanski (Typ Schattenstürmer) und Yari Otto (Typ Raumdeuter) wurden nie komplett von Sportdirektor oder Trainer in ihren Paradedisziplinen eingesetzt oder der Spielstil der Eintracht an ihre Fähigkeiten angepasst.
Umso mehr ist es schade, dass Endo als Rechtsfuß nicht in seiner Rolle als inverser Außenstürmer auf der linken Außenbahn auftreten darf, der hinter sich Räume öffnet, wenn er in die Mitte zieht. Somit rennt er sich oft im linken Halbraum oder auf der Außenbahn fest, ohne seine Spielanlagen wirklich zu entfalten. Die andere Sache ist, dass er mit Donkor nicht wirklich klar zu kommen scheint (und Donkor einfach nicht auf einem hohen Level performt). Er braucht Spieler zum kombinieren, nicht zum rennen.
Dann ist da auch noch die “Systemfrage”. Laut den Daten, also auf dem Papier, wäre ein 4-2-3-1-System mit Kijewski – Gechter – Decarli – De Medina, davor Krauße und Nikolaou und davor links Endo, zentral Pherai, rechts Kaufmann/Multhaup und als Stürmer Wintzheimer sehr solide. Das System könnte spielerisch vorne funktionieren, aber auch defensive Stabilität verleihen.
Ich denke allerdings, dass Michael Schiele nicht will, dass die Eintracht hinten reingedrückt wird, da die Eintracht spielerisch in der 2. Liga als schwach einzuschätzen ist. In der schwächeren 3. Liga konnte Eintracht noch gegen den Ball in einem 4-4-2 agieren. Jetzt will man, so denke ich, gegen spielstarke Teams verhindern, dass aus einem 4-4-2 ein 6-2-2 gegen den Ball wird, weil man sonst in der letzten Linie schnell in Unterzahl geraten würde. So würde man hinten eingeengt und auch einen Konter zu starten, wäre wenig aussichtsreich.


Die Vorteile von einem 5-3-2 gegen den Ball sind, dass wenn sich ein Spieler von der 5er-Linie löst um den Gegner zu pressen, die Linie in Balance bleibt und keine große Lücken entstehen. Die letzte Linie muss sich in der Breite auch nicht so viel bewegen. Somit erreicht der Gegner keinen nennbaren Vorteil, wenn er das Spiel auf die andere Seite verlagert. Dazu kommt, dass man bei Hereingaben in den eigenen Strafraum einen Verteidiger in der Box mehr hat. Außerdem sollen die zwei Stürmer vorne bleiben, damit man immer Gefahr für einen Konter bietet.
Ein Nachteil eines 5-3-2 gegen den Ball ist hingegen, dass dem 3er-Mittelfeld die Balance fehlt. Anders als in dem 4-4-2 ist die Breite eher dünn besetzt. Man muss als Mittelfeldspieler auch lange Strecken überbrücken (siehe Laufleistung). Man kann diesen Nachteil allerdings kompensieren, wenn die 5er-Abwehrlinie aktiv genug ist und die Kommunikation zwischen den Linien schnörkellos ist. Eintracht musste leider in seine Abwehr mehrmals umstellen, somit passierten hier oft leichte Fehler. Hinzu kommt, dass die Außenbahnspieler Marx und Donkor in ihrem Abwehrverhalten nicht die nötige Qualität mitbringen. Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass zum Beispiel Holstein Kiel genau diese Schwächen der “passiven” Linie und der fehlenden Kommunikation zum 0:1 aus Sicht unserer Löwen ausnutzen konnte.
Was wäre die Alternative? Eventuell wäre ein 5-4-1 gegen den Ball eine Möglichkeit. So hätte man das 0:1 der Kieler zum Beispiel verhindern können. Der Treffer entstand in der Realität so: Endo deckt mit seinem Deckungsschatten den direkten Pass in der Mitte auf Hólmbert Aron Fridjónsson, doch der Ball wird auf Philipp Sander an der Seite verlagert. Die Abwehrlinie bleibt wo sie ist, Jannis Nikolaou wird aus der Position gezogen und Endo läuft eventuell nicht aggressiv genug auf den Ballführenden zurück. Dann wird der entscheidende Zweikampf im Strafraum von Marx verloren.

Stellen wir uns nun vor, Eintracht würde mit einem 5-4-1 agieren. Hätte man im Sturm zum Beispiel auf Anthony Ujah verzichtet, oder einer von den beiden Stürmer würde sich gegen Ball zurückfallen lassen, dann könnte das 4er-Mittelfeld die Breite besser absichern und auch eine passivere 5er-Linie könnte man sich erlauben. Anzumerken ist, dass natürlich auch der Gegner in der Abwehr anders aufstellen würde und er könnte einen Mann mehr nach vorne mitnehmen. Dennoch hätte ein 5-4-1 gegen den Ball und ein 3-4-3 mit dem Ball für mich einige Vorteile. Es würde auch die individuelle Qualität einzelner Spieler kompensieren, wenn diese fehlt (Marx/Donkor) oder hervorbringen, wenn diese existiert, jedoch nicht richtig eingesetzt wird (Endo). Mut sollte uns machen, dass unsere Eintracht in der 2. Hälfte bereits teilweise auf diese Formation zurckgegriffen hat.
Fazit
Bei der Eintracht gibt es aktuell wenige Helden und einige Sündenböcke. Die Probleme der Mannschaft liegen begründet in der fehlenden Qualität, vielen Verletzungen, taktischen Schwächen und falsch eingesetzten Spielern. Hier hätte man mit einem anderen Scoutingansatz vermutlich passendere Spielertypen finden können.

Eine Wohltat, mal wieder so eine fundierte Analyse zu lesen!
Was interessiert mich verschissener GSN whatever Wert wir wollen euch kämpfen und siegen sehen.