Transferfazit September 2020
9 min readEin Gastbeitrag von Rabona95.
Edit: Jussi-Pekka Rode. Dino-Bilder: Julian.
Hallo Löwen!
Die diesjährige Transferperiode ist fast abgelaufen, Zeit also für ein vorläufiges Fazit:
Allgemeines
Spätestens mit der Verpflichtung von Felix Kroos darf man behaupten, dass Peter Vollmann, inzwischen zum Geschäftsführer Sport befördert, und der neue Trainer Daniel Meyer gute Arbeit geleistet haben und den klaren Worten nach dem Aufstieg entsprechende Taten folgen ließen. Offensichtlich konnte Vollmann sein Netzwerk gut nutzen und war zusammen mit Meyer in der Lage, einige Spieler zu überzeugen, von denen man es nicht unbedingt annehmen konnte, dass sie zu Eintracht zu gehen. (Der Wunschsturm Polter und Kyereh ist allerdings nicht dabei.)
Eine kleinere Baustelle hat man aufgemacht mit einer Äußerung im Sommer, man brauche unbedingt einen robusten, großen Stoßstürmer. Dieses Vorhaben ließ sich bislang nicht realisieren, sodass man sich gezwungen sah, zu improvisieren, indem man Kaufmann, der eigentlich für die rechte Außenbahn vorgesehen war, in die Spitze versetzt hat. Deshalb muss rechts vorläufig der auf dieser Position ungelernte Wiebe spielen, was gerade gegen Offensivspieler wie die von Hertha im Pokalspiel nicht immer funktionieren konnte.
Von einer ganzen Reihe von Spielern hat man sich verabschieden können. Prinzipiell waren alle Entscheidungen nachvollziehbar, über die Art und Weise gibt es unterschiedliche Auffassungen. Dennoch ist der Kader aktuell ziemlich groß – sechs Vereine haben im Moment einen größeren Kader – , doch gerade in Hinblick darauf, dass es quasi keine Winterpause geben wird, scheint das auf Dauer kein Nachteil zu sein.
Vollmann zufolge habe man von einigen Transfers Abstand genommen, weil noch nicht jeder Spieler und Berater zur Erkenntnis gekommen sei, dass Verträge unter Corona anders aussehen. Möglicherweise ist damit unter anderem Polter gemeint, der offenbar ein Angebot bekommen hat, sich dann aber anders entschieden hat, weil es seinen Gehaltsvorstellungen nicht entsprach.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass man durch die umfangreichen Umbaumaßnahmen am Kader konkurrenzfähig für die neue Liga aufgestellt ist. Dem GSN-Index für Mannschaften und dem SPI von fivethirtyeight.com zufolge befinden wir uns jedoch am unteren Ende der Skala, was das Spielerpotential betrifft. Der Prognose von Goalimpact nach würden wir hingegen auf dem zweiten Platz landen.

Grundsätzlich ist jede Position doppelt besetzt, der Kader wirkt – trotz der vielen zentralen Mittelfeldspieler – recht ausgewogen, auch was die Altersstruktur betrifft. In der Mannschaft ist genügend Zweitliga-Erfahrung vorhanden.
Wenn, dann besteht höchstens auf der rechten Außenbahn und im Sturmzentrum Handlungsbedarf. Das Spiel in Heidenheim hat gezeigt, dass man bis zum Ende nach einem irgendwie bezahlbaren Wandspieler, der hundertprozentige Chancen verwandelt, Ausschau halten sollte. Wenn Quaner keinen Verein in England mehr findet und seine Gehaltsvorstellungen an deutsche Zweitliga-Verhältnisse anpasst, sollte man parat stehen. Meyer ist indes zuzutrauen, Spieler aus dem aktuellen Kader mittelfristig so zu entwickeln, dass sie diese Positionen besetzen können, sollten keine Neuverpflichtungen mehr möglich sein.
Davon unabhängig fehlte gegen Heidenheim ein „aggressive Leader“. Daher ist zu hoffen, dass Kessel noch einige gute Spiele im Tank hat, um diese Rolle, am besten zusammen mit Ben Balla, Nikolaou und Kroos, zu übernehmen. Außerdem gilt es zu betonen, dass ein derart radikaler Team-Umbau einige Risiken birgt und dass man im Moment nur schwer einschätzen kann, inwieweit sich die vielen neuen Spieler schnell zu einem echten Team zusammenfinden werden.
Die neuen Spieler im Einzelnen
Die Verpflichtung zweier linksfüßiger Spieler (Nikolaou und Klass) für die Defensive ist sehr zu begrüßen. Klass traut man die Liga nicht sofort zu, Ziegele war gegen Heidenheim im Spielaufbau als Rechtsfuß ein Schwachpunkt. Auf Dauer wird Nikolaou auf der Position des linken Innenverteidigers erste Wahl sein. Gegen Hertha und Heidenheim hat er auch im zentralen Mittelfeld eine sehr gute Leistung abgeliefert.
Wydra hat in den ersten beiden Spielen die Erwartungen im Großen und Ganzen erfüllt, die man an ihn als Libero 2.0 gestellt hat. Auf Felix Kroos wurde in diesem Blog schon umfassend eingegangen, er ist der offensichtliche Königstransfer, der jedoch noch etwas Zeit braucht, um auf Betriebstemperatur zu kommen. Ben Balla ist, zumindest wenn man das Pokalspiel zugrunde legt, so etwas wie der heimliche Königstransfer. Derartig komplette Spieler wie ihn oder Nikolaou hat man sich schon seit Jahren gewünscht.
Schultz geht ähnlich wie beispielsweise Bär in seine erste Zweitliga-Saison, den beiden ist aber genauso wie Kaufmann, der schon Zweitliga-Spiele in seiner Vita aufweist, zuzutrauen, sich schnell zu akklimatisieren. Wie manch anderer Spieler im Kader werden sie darauf brennen, sich und allen zu beweisen, dass sie auf diesem Niveau dauerhaft mithalten können. Das Potential dafür besitzt jeder der neuverpflichteten Spieler.
Iba May bringt mit seiner Athletik einen weiteren Faktor mit, rechter Außenbahnspieler müsste aber auch er auf dem zweiten Bildungsweg lernen. Abdullahi kann auf jeden Fall ein Unterschiedsspieler sein, doch dafür muss er sein Phlegma abgelegen.
Für die Position des Torwarts wäre jemand wie Lindner sicherlich interessanter gewesen. Dornebusch ist im Vergleich kein klares Upgrade gegenüber seinen Konkurrenten, er verkörpert jedoch mehr den Typ des mitspielenden Torwarts und wird sicher moderate Gehaltsvorstellungen gehabt haben, zudem kennt Co-Trainer Stickroth ihn aus seiner Zeit beim FCN. Die Entscheidung pro Dornebusch und contra Fejzic erinnert etwas an die Lehmann-Kahn-Diskussion vor der WM 2006.
Heiland, der ohne Corona an ein amerikanisches College gegangen wäre, scheint ein sehr interessanter Nachwuchsspieler zu sein, hatte allerdings das Pech, wegen einer Muskelverletzung den Großteil der Vorbereitung verpasst zu haben. Kupusovic ist für alle der große X-Faktor – außer für den Trainer, der ihn aus Aue kennt.
Die Systemfrage
Die neuen Spieler scheinen – soweit man dies jetzt schon sagen kann – ausnahmslos in die Mannschaft, zur neuen Spielanlage, die auf Ballbesitz ausgerichtet ist, und in Meyers 3-5-2-System zu passen. Der Fokus bei den Verpflichtungen lag ganz offensichtlich auf dem Zentrum, was wegen des Systems absolut nachvollziehbar ist – ganz abgesehen davon, dass gute und bezahlbare Außenverteidiger, gerade für die linke Seite, fast so schwer zu finden sind wie Stürmer mit „Torgarantie“.
Die potentiellen Schwächen des Systems – Räume hinter den Außenspielern – haben die Hertha-Stürmer im Pokalspiel schnell offenlegen können, die Stärken konnte man aber auch sofort erkennen. Das Aufbauspiel wirkt schon sehr ansehnlich. Wenn die Abstimmung und die Laufbereitschaft passen, bietet dieses System alles in allem mehr Vor- als Nachteile.
Kijewski trauen viele nicht zu, ein solider Linksverteidiger in der Zweiten Liga zu werden, manche sehen das anders. Gewisse Nachteile hat er höchstens in puncto Geschwindigkeit, sonst ist er dem GSN-Index zufolge jemand, der auf jeden Fall das Potential für diese Liga besitzt. Am Ende gegen Heidenheim wurde Marcel Bär, bisher als Joker für die Offensive vorgesehen, auf der rechten Schiene zum Einsatz gebracht, das könnte man gerne auch mal von Beginn an versuchen. Ansonsten wäre mit Niklas Kreuzer eine sinnvolle Alternative auf dem Markt.
Nach der ersten Niederlage in der Liga sofort die Systemfrage zu stellen, erscheint übertrieben und unnötig. Dreier- oder Viererkette, Ballbesitz- oder Balleroberungsfußball – damit alleine ist noch keiner auf- oder abgestiegen. Ein 4-4-2 mit Raute beispielsweise ist genauso anfällig gegenüber Angriffen über die Flügel, ein 4-3-3 kann ebenfalls sehr löchrig sein.
Die im Wortsinne zentrale Rolle in (fast) jedem System ist die des Sechsers. Bei einer Dreierkette ist der Mittelmann im Grunde nichts Anderes als ein größtenteils zurückgezogener Sechser, beziehungsweise eigentlich müsste man es anders herum sehen, die beiden Innenverteidiger (und die beiden Außenverteidiger) rücken eine Linie auf, wodurch die ganze Formation kompakter wird.
Die Dreierkette wird nicht nur von absoluten Topteams wie Borussia Dortmund sehr erfolgreich praktiziert, sondern auch von Mannschaften wie Atalanta Bergamo, Wolverhampton Wanderers oder Sheffield United, die mit eher überschaubaren finanziellen Mitteln einen erstaunlich großen Erfolg in den letzten Jahren erreichen konnten.
Gasperini hat vier seiner ersten fünf Ligaspiele mit Atalanta verloren, mittlerweile hat er von 187 Spielen 98 gewonnen und liegt bei einem Punkteschnitt von 1,81. Wolverhampton und Sheffield erreichten jeweils als Aufsteiger auf Anhieb einen einstelligen Tabellenplatz in der Premier League.
Das Problem der fehlenden Scouting-Abteilung
Im Moment gibt es keine Scouting-Abteilung, man fährt also auf Sicht, das Netzwerk-Scouting funktioniert, mutmaßlich wurde nur Klass häufiger direkt unter die Lupe genommen. 500 Bewerbungen im Sommer hat man dagegen quasi ungesehen zu Akten gelegt. Unter Corona-Bedingungen ist das nachvollziehbar, Auslandsreisen waren nicht möglich, der Spielbetrieb ruhte fast überall.
Vollmanns Aussagen in der BZ vom 17.9. zufolge wird sich zumindest kurzfristig daran nichts ändern. Zitat: „Die Situation im Bereich Scouting werden wir vorläufig so beibehalten. (…) Mit Spielern aus dem Ausland beschäftigen wir uns momentan überhaupt nicht. Das ist nicht unser Markt. Ich will aber nicht ausschließen, dass wir das wieder intensivieren.“

Unter Umständen sollte man diese Spieler trotzdem nochmals sichten, schauen, wer noch vereinslos ist, und für die rechte Seite, das offensive Mittelfeld und die Sturmmitte jeweils zwei Kandidaten für ein Probetraining einladen.
Kandidaten für einen Last-Minute-Transfer wären wie erwähnt Niklas Kreuzer (vereinslos) für die rechte Außenbahn, Donis Avdijaj (ebenfalls vereinslos) oder Besar Halimi (soll Sandhausen verlassen) für das offensive Mittelfeld – vorausgesetzt, Kobylanskis Vater und Berater erhalten kurz vor Ende der Transferperiode ein Angebot, was sie nicht ablehnen können, zum Beispiel aus Düsseldorf – sowie der schon angesprochene Collin Quaner als großer Stoßstürmer.
Bei vereinslosen Spielern hätte man im Übrigen länger Zeit als bis zum Ende der Transferperiode am 5. Oktober. Bedingung wäre dafür andererseits eigentlich, noch den einen oder anderen Spieler verabschieden zu können, was jedoch auf Grund der Umstände schwer ist und schwer bleiben wird.
Auf Dauer kann man sich dieses auf Sicht Fahren beim Scouting nicht leisten und muss, um konkurrenzfähig in dieser extrem engen Liga zu bleiben, Spieler suchen, welche mehr Qualität mitbringen und weniger Gehalt kosten als die meisten Spieler aus deutschen Ligen. Solche Spieler findet man vor allem in Skandinavien und auf dem Balkan.
Dafür bräuchte man einen hauptamtlichen Scout. Wer höchstwahrscheinlich sofort zur Verfügung stehen würde, wäre Frank Eulberg, der auf dem Gebiet genügend Erfahrungen mitbringt. Eine Kooperation mit einem Anbieter für datenbasierte Analyse wie Global Soccer Network ist ebenso zwingend notwendig. Mittel- und langfristig sind dies Investitionen, die sich auf jeden Fall auszahlen werden. Dass der SV Sandhausen zuletzt beispielsweise mit Zhirov und Fraisl in Osteuropa Spieler gefunden hat, die kein anderer auf dem Schirm hatte, ist sicher kein Zufall.
Ausblick in die Zukunft
Auf lange Sicht könnte es bei allem Risiko, was man dabei eingehen muss, zudem lohnend sein, buchstäblich global zu denken und dabei die Möglichkeiten, soll heißen die Beziehungen, die man hat, zu nutzen.
Zum einen käme dafür Kingsley Onuegbu in Frage, der nach Beendigung seiner Karriere eine Fußballschule in Kaduna (Nigeria) eröffnen wird. Wenn man ihn dabei unterstützen würde, hätte man im besten Fall die Chance, in fünf bis acht Jahren talentierte Nachwuchsspieler aus Nigeria direkt nach Braunschweig zu transferieren.
Emefie Aneke Atta, der Berater von Abdullahi, welcher übrigens ebenfalls aus Kaduna stammt, scoutet seit Jahren Spieler in seiner Heimat und bringt sie dann als erstes nach Norwegen, das viele als Sprungbrett in die größeren Ligen Europas nutzen.

Eine andere Option wäre Daniel Teixeira in Belo Horizonte (Brasilien), der als Spielerberater tätig ist und einige Jahre bei seinem Heimatverein Cruzeiro im Vorstand zuständig war für internationale Beziehungen. Er strebt – einem Interview aus dem Frühjahr zufolge – Kooperationen mit deutschen Vereinen an und könnte in Belo Horizonte als Türöffner und Vermittler für Eintracht auftreten.
Zusammenfassung
Alles in allem ist also in dieser Saison mit dem Kader, wie er bis jetzt zusammengestellt worden ist, der Klassenerhalt ein realistisches Ziel, vereinzelte Nachjustierungen könnten trotzdem durchaus noch sinnvoll sein. Mittel- und langfristig muss man sich allerdings anders aufstellen beim Scouting, wenn man konkurrenzfähig bleiben will.
Quellen:
- Global Soccer Network
- FiveThirtyEight
- Goalimpact
- Whoscored.com
- Footballcritic.com
- Transfermarkt.de
- Braunschweiger Zeitung
- Regionalsport